Einwandbehandlung ist ein Begriff aus dem Versicherungsvertrieb. Er steht für das, was im Verhältnis zwischen Verkäufern und Kunden alles falsch läuft. Dabei steht es außer Frage, dass es legitim ist, dass Anleger auf Autopilot schalten und ihrem Berater die Verantwortung überlassen möchten. Es sprechen leider veritable Gründe dagegen.*
Anlegende machen Fehler am laufenden Band. Sollten sie auf Autopilot schalten und alles ihrem Finanzberater überlassen, der seine Klienten vor renditeschädlichen Entscheidungen abhält? Das Wort „Einwandbehandlung“ steht für alles, was dagegen spricht. Doch der Reihe nach. Vor gut 15 Jahren hatte ich die Aufgabe, auf einer Konferenz ein Panel zu Trends im Finanzvertrieb zu moderieren. Als Ausgangspunkt stellte ich die Berechtigung der Praxis der „Einwandbehandlung“ zur Diskussion. Als Analyst bei Morningstar war mir dieser Begriff, dem ich erstmalig bei der Vorbereitung der Diskussionsrunde begegnet war, nicht nur im Wortsinn vollkommen fremd.
Das Wortungetüm impliziert, dass Einwände von Kunden wie eine Krankheit zu „behandeln“ seien. Die Aufgabe des Verkäufers: die Einwände rhetorisch gekonnt zu parieren, um Anlegenden dann „genau das richtige Produkt für sie“ zu empfehlen. Das stand und steht im krassen Gegensatz zu meinem Selbstverständnis, dass Anlegende als selbstbestimmte Subjekte zu behandeln sind, denen Berater auf Augenhöhe zu begegnen haben. Zunächst stehen die autonomen Entscheidungen des Klienten, die dann von Experten in die Realität des Portfolios zu moderieren sind. (Die Panellisten waren damals nicht besonders angetan von meinem Moderationsstil).
Fast Forward 15 Jahre später. Aus dem damaligen Analysten im Morningstar-Elfenbeinturm ist der Geschäftsführer eines Finanzdienstleisters geworden, der jeden Tag Entscheidungen über Anlegerportfolios trifft. Uns begegnen viele schlecht diversifizierte Portfolios – viele Anlegende haben immer wieder zu spät im Marktzyklus hochriskante Produkte gekauft, die hiernach durch den Mangel der Märkte gedreht wurden.
Die Finanzwissenschaft hat mit der Behavioral Finance-Forschung in den vergangenen Jahren eine eigene Disziplin zu Anlegerfehlern geschaffen. Es ist erwiesen, dass kognitive Verzerrungen wie Selbstüberschätzung und Verlustaversion zu systematischen Fehlentscheidungen und schwachen Renditen führen.
Wäre es also nicht angemessen, wenn Experten ihre Mandanten zu besseren Entscheidungen „schubsen“, auch wenn das bedeutete, ihre ursprünglichen Intentionen zu konterkarieren? Und überhaupt: Hat nicht schon Albert Camus die These aufgestellt, dass die absolute Freiheit maßlos sei und schnurstracks in den Nihilismus führe? Insofern wären „Einwände“ wider die Vernunft nicht doch eine Art Krankheit?
„In der Idealwelt wäre es vollkommen in Ordnung, dass Berater als Experten das Ruder übernehmen und Anlegenden die Entscheidung über komplexe Fragen abnehmen“
In der Idealwelt wäre es vollkommen in Ordnung, dass bei einem entsprechenden Mandat der Berater als Experte das Ruder übernimmt und Anlegenden die Entscheidung über komplexe Fragen abnimmt. Schließlich rufen wir einen Elektriker, wenn es um Starkstrom im Haushalt geht, wir bringen unser Auto zur Reparatur in die Werkstatt und gehen zum Arzt, wenn wir krank sind.
Aber leider sieht die Praxis des Finanzvertriebs in Deutschland oft so aus, dass fachlich gänzlich unbeleckte Verkäufer ihren Mandanten teure Fonds und ungeeignete Zertifikate aufs Auge drücken. Was im Portfolio der Kunden landet, entscheidet die Vertriebssteuerung der Zentrale in Frankfurt, Heidelberg oder Hannover und nicht das, was im besten Interesse der Anlegenden wäre. Ob wir eine Riester-Rente, eine Rentenversicherung oder einen Fondssparplan bekommen, hängt davon ab, ob bei der Bank unseres Vertrauens gerade Riester Wochen, Rentenversicherungs-Wochen oder Fonds-Wochen gefeiert werden.
Solange der Finanzvertrieb in Deutschland so strukturiert ist, dass viele im Zweifel nicht wissen, welche Rolle sie im Geschäftsmodell ihrer Bank, ihres Finanz- oder Versicherungsdienstleisters spielen, ist die ganze Abwägung zwischen Anlegerautonomie und Verantwortungsübertragung Makulatur. Der Idealzustand einer Finanzmeritokratie, in der Experten gemeinsam mit Kundinnen und Kunden günstige, passgenaue, diversifizierte und leistungsstarke Portfolios entwickeln, ist in der Regel nur vermögenden Kunden Realität. Für die Masse der Anlegenden im Deutschland des Jahres 2024 ist eine faire Finanzberatung oftmals ein fernes Ziel.
*Die Originalfassung diess Beitrags erschien als Gastbeitrag bei der Börse Frankfurt. Mit freundlicher Genehmigung bringen wir hier eine leicht editierte Fassung des Beitrags „Wie therapiebedüftig ist der Wille des Anlegenden?„
Autor
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Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar.
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