Aktien, Anleihen, Bitcoin: alles steigt. Seit Anfang November sind die Turbo-Bullen von der Kette gelassen worden. Der Anstieg wirkt allerdings prekär, wenn man sich die intellektuell dünne Grundlage der Hausse näher ansieht. Überschießende Hoffnungen und Erwartungen basieren auf zügige Zinssenkungen. Ist das wahrscheinlich?
Wir haben uns daran gewöhnt, dass Märkte stimmungsgetrieben sind. Kurzfristig sind die Kurse an den Risikomärkten unmöglich zu prognostizieren. (Das schließt natürlich nicht aus, dass man im Nachhinein klug daherredet und so tut, als hätte es nicht anders kommen können.) Das heißt nicht, dass Anleger irrational handeln. Die allermeisten agieren hochrational. Allerdings passen die Thesen vieler Anleger nicht zusammen, sodass sich die Kurse kurzfristig erratisch entwickeln. Ein grundlegender Richtungswechsel am Markt verfestigt sich dann, wenn immer mehr Anleger klar wird, dass die erste Erholung auch durch fundamentale Faktoren gestützt ist.
"Everthing Rally" spült Asset-Preise nach oben
Das war 2009 der Fall, als die Junk-Rally fundamental validiert wurde; 2020, als klar wurde, dass Politik und Notenbanken alles tun würden, um die Corona-Krise unter Kontrolle zu bringen. Es war auch 2022 der Fall, als die russische Invasion der Ukraine und Lieferkettenprobleme die Inflation anfachten, was zu einer Neubewertung von Aktien (vor allem Growth) und Anleihen (alle) führte.
Das bringt uns zur Situation heute. Wir sind gerade Zeugen überschießender Kurse, die man im Englischen treffend als „everything rally“ bezeichnet. Ob Aktien, Anleihen, Bitcoin oder auch Gold: Seit Anfang November steigen Risiko-Assets durch die Bank. Nachdem Bitcoin um rund sieben Prozent im November gestiegen war, schoss der Preis in den ersten Dezember-Tagen nochmal um 18 Prozent nach oben (alle Renditeangaben in Euro). Der NASDAQ 100 stieg im November um über sieben Prozent, um im Dezember nochmal um knapp zwei Prozent zuzulegen. Beta-Königin Cathy Wood konnte auch reüssieren: nach 26 Prozent plus im November ging es für den ARK Innovation ETF in den ersten Dezembertagen um rund fünf Prozent nach oben. Dank des massiven Rendite-Rückgangs seit November konnten auch Anleihen weltweit reüssieren. Auch Gold stieg Anfang Dezember auf ein Allzeithoch.
Die einseitigen Szenarien der Turbo-Bullen
Hintergrund der stark gestiegenen Preise für Risiko-Assets ist das Zusammenspiel einiger Szenarien (über-)optimistischer Anleger. Sie gehen davon aus, dass die Inflation besiegt ist. Das wäre gut für Anleihen, weil dann der Grund für die hohen Zinsen entfallen wäre. Es wäre zunächst auch eine gute Nachricht für Aktien, weil hohe Zinsen die Investitionen von Unternehmen hemmen. Sinkende Zinsen reduzieren wiederum die Opportunitätskosten für Risiko-Assets wie Gold und Bitcoin, die keine Cashflows erwirtschaften und daher auch keine Verzinsung oder dividendenartige Rückflüsse an Anleger liefern. Kurzfristig ließe sich die Turbo-Rally also durchaus unter diesem Szenario rechtfertigen. Doch es gibt gleich mehrere Haken:
Dass die Zinsen sinken angesichts des nachlassenden Inflationsdrucks hat einen ganz konkreten Grund: die weniger stark steigenden Preise deuten auf nachlassende wirtschaftliche Aktivitäten hin. Das wäre nicht gut für Aktien, die von einer boomenden Konjunktur profitieren. Dass die hohen Zinsen die Wirtschaft stressen, lässt sich zwar aktuell in den USA nur andeutungsweise messen, wohl aber in der Eurozone, die am Rande einer Rezession steht.
Nachdem sich im Zuge steigender Renditen bis Ende Oktober die Zinskurve in den USA stärker verflacht hat, hat sich die Inversion hiernach erneut verstärkt. Auch wenn die Inversion der Zinskurve kein zuverlässiger Indikator ist für eine nahende Rezession, deutet sie darauf hin, dass Anleihen-Investoren davon ausgehen, dass das künftige Zinsniveau sinken wird. Auch der US-Konsum könnte nachlassen und die US-Wirtschaft in eine Rezession treiben. Möglicherweise sind die Energiemärkte hier realistischer: Ungeachtet der von der Opec+ beschlossenen Senkung der Ölfördermenge geht der Ölpreis merklich zurück.
Doch es kommt noch doller: Es ist längst nicht ausgemachte Sache, dass sich die US-Notenbank (oder die EZB) beeilen wird, die Zinsen zu senken. Fed-Chef Jerome Powell hat wiederholt bekräftigt, dass die Zinsen noch länger auf hohem Niveau verharren könnten. „Higher for longer“ ist die Default-Option der Fed, die nicht den Fehler der 1970er-Jahre wiederholen wird, die Zinsen zu früh zu senken und damit eine vorzeitige Rückkehr der Inflation zu provozieren. Daher hob Powell in seinen Statements Anfang Dezember hervor, dass die Fed die Geldpolitik durchaus noch restriktiver ausrichten könne. Nach wie vor steht das 2-Prozent-Ziel im Raum, und es könnte sein, dass der Rückgang von 3 Prozent Inflation auf 2 Prozent schwieriger sein wird als der Rückgang von 7 Prozent auf 3 Prozent.
Diese warnenden Signale der US-Notenbank gehen an vielen Anlegern offenbar vorbei. Die Optionsmärkte zeigen an, dass Anleger bereits mit ersten Zinssenkungen in den USA im März 2024 rechnen und bis Ende des Jahres einen Rückgang auf rund 4 Prozent erwarten – ausgehend vom heutigen Niveau von 5,25 bis 5,5 Prozent. Demgegenüber erwarten Wirtschaftswissenschaftler aus der akademischen Welt einer Umfrage der Financial Times zufolge allenfalls mit einem Zinsrückgang im dritten Quartal 2024 und sehen für nächstes Jahr allenfalls einen Zinsrückgang um 0,5 Punkte oder weniger.
Fazit: Don't fight the Fed
Eine bekannte Börsenweisheit lautet: „don’t fight the Fed“. Anleger begeben sich auf einen gefährlichen Weg, wenn sie all-in gehen in eine Wette auf bald sinkende Zinsen. Denn sie ignorieren damit geflissentlich, dass die US-Notenbank nicht müde wird zu betonen, dass sie noch nicht am Ziel angelangt ist. Dass die Preise von so gut wie allen Risiko-Assets steigen, zeigt, dass immer mehr Anleger der Realität entrückt sind.
Die Zinsen mögen derzeit hoch sein, aber die Geldpolitik ist im historischen Vergleich nicht besonders restriktiv. Die Fed muss also keinen akuten Handlungszwang verspüren – im Gegenteil: die aktuellen Zahlen vom US-Arbeitsmarkt signalisieren eine weitergehende Expansion der US-Wirtschaft. Es könnte sein, dass vielen Turbo-Bullen ein unschönes Erwachen 2024 bevorsteht.