Benjamin Graham gilt heute als der einflussreichste Denker und Autor in Sachen Wertpapieranalyse. Seine Arbeit schuf das Handwerkszeug der Aktienanalyse und seine Lehre war die Erfolgsformel legendärer Investoren wie Warren Buffett, Sir John Templeton oder Irving Kahn. Sein populärwissenschaftliches Buch „The Intelligent Investor“ wurde zur Bibel des Value-Investing und beeinflusste Millionen von Anleger. Wir starten unsere Reihe Envestor Hall of Fame mit einem Portrait eines der Urväter der fundamentalen Wertpapieranalyse.
Der intelligente Investor: Benjamin Graham und die Geburtsstunde der modernen Wertpapieranalyse
Graham, 1894 in London geboren, wuchs nach dem Tod seines Vaters 1903 bei seiner alleinerziehenden Mutter in New York auf. Der Aktiencrash von 1907 stürzte die Familie in Armut und dieses Trauma prägte Graham nachhaltig. Nur Dank eines Stipendiums war es ihm möglich, an der Columbia University zu studieren. Obwohl Graham nach seinem Abschluss im Jahre 1914 Angebote verschiedener Fakultäten erhielt, entschied er sich zunächst für eine Karriere an der Wall Street. Er nahm eine Stelle – zunächst als Botenjunge – bei einem Wertpapierhandelsunternehmen an. Sein scharfes analytisches Verständnis ermöglichte ihm dort den Aufstieg zum „Statistiker“. So nannte man damals die wenigen Anwender der noch in den Kinderschuhen steckenden Fundamentalanalyse in Ermangelung eines passenden Begriffes.
Benjamin Graham ermittelt erstmals den „inneren Wert“ von Unternehmen
Tatsächlich war der Entwicklungsstand der Wertpapieranalyse zutiefst rudimentär und selbst einfachste Bilanzanalysen kaum verbreitet. Die meisten Investoren trafen ihre Anlageentscheidungen auf der Basis von Tipps, Gerüchten und Geschichten und nicht auf der Basis rationalen Kalküls. Graham war schockiert von dieser Irrationalität und der Abwesenheit wissenschaftlicher Methode. Schnell begann er, die Bilanzen von Unternehmen zu durchleuchten, um deren wahren „inneren Wert“ zu ermitteln. Dieses Konzept des „inneren Wertes“ ist das erste zentrale Element von Grahams Ansatz. Es setzt einen rationalen Anker für die Bewertung eines Wertpapiers. Mit diesem Anker konnte er dann die durch irrationale Euphorie und Depression beeinflussten Börsenkurse vergleichen.
Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte Graham ein Instrumentarium an Methoden, um den „inneren Wert“ des Unternehmens zu ermitteln. Er betrachtete die Unternehmen sowohl aus der Perspektive ihres statischen Bilanz- oder Zerschlagungswertes als auch auf der Basis ihres Ertragswertes. Damit schuf er die bis heute gültige Vorgehensweise der Fundamentalanalyse. 1923 machte er sich mit einer Investmentgesellschaft selbstständig und lehrte ab 1928 Wertpapieranalyse an der Columbia University. Im Jahre 1934 schließlich veröffentlichte er gemeinsam mit David Dodd die Monographie „Security Analysis“, mit der er die moderne Wertpapieranalyse definierte.
Die Geburtsstunde des intelligenten Investierens
Das in „Security Analysis“ dargelegte Konzept lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Die Marktpreise von Wertpapieren werden neben harten Fakten auch von irrationalen Faktoren wie der schwankenden Stimmung der Investoren beeinflusst.
- Die Marktpreise von Wertpapieren schwanken um einen unbekannten wahren inneren Wert. Dieser wird von verschiedenen Faktoren – insbesondere den zu erwartenden Erträgen und dem Substanzwert des Wertpapiers – beeinflusst.
- Durch die Analyse dieser Faktoren kann der Wertpapieranalyst eine Einschätzung bezüglich des inneren Wertes des Wertpapieres entwickeln. Diese Einschätzung kann er dann mit dem Marktpreis vergleichen, um Anlageentscheidungen zu treffen: Liegt der Marktpreis des Wertpapiers unter dem inneren Wert, dann wird es gekauft, liegt er darüber dann wird des verkauft bzw. gemieden.
- Um der Unsicherheit bezüglich des wahren inneren Wertes Rechnung zu tragen, sollte der rationale Investor nur Wertpapiere mit einer zusätzlichen Sicherheitsmarge („margin of safety“) erwerben, deren innerer Wert also deutlich über dem Marktpreis liegt.
„Security Analysis“ war auf zwei Ebenen bahnbrechend: Einerseits schufen Graham und Dodd die beiden grundsätzlichen Methoden fundamentaler Bewertung – den Ertrags- und den Substanzwert. Andererseits entwickeln sie erstmals das Konzept eines rationalen Investmentprozesses, also einer Vorgehensweise, die es Anlegern ermöglicht, die eigenen Emotionen zu besiegen. Auf diese Weise konnten sie zu rationalen, nachvollziehbaren und erfolgreich wiederholbaren Investmententscheidungen gelangen. Bis heute bildet dieses Konzept des Investmentprozesses unverändert ein philosophisches Kernelement professionellen Portfoliomanagements.
Benjamin Graham prägte eine ganze Generation legendärer Investoren
Grahams revolutionärer Investmentansatz bewährte sich in den Folgejahren auch in der Praxis und zwar auf spektakuläre Weise: Die Graham-Newman Corporation – Grahams Investmentgesellschaft – generierte zwischen 1936 und 1956 eine annualisierte Performance von rund 20 Prozent. Damit schlug sie den breiten Markt um Längen. Graham Newman wurde gleichzeitig zur Ausbildungsstätte für eine ganze Generation legendärer Investoren, unter ihnen Warren Buffett.
Im Jahre 1949 veröffentlichte Graham schließlich das populärwissenschaftliche Buch „The Intelligent Investor“, in dem er sein Denken einer breiten Öffentlichkeit präsentierte und das Denken und Handeln von Millionen Anlegern beeinflusste. Grahams „intelligenter Investor“ war ein Realist, der in einer von Übertreibungen geprägten Welt von den irrationalen Pessimisten kaufte, um dann später an die irrationalen Optimisten zu verkaufen. Warren Buffett bezeichnete „The Intelligent Investor“ als das „bei weitem beste Buch, dass jemals über das Investieren geschrieben wurde“ und würdigte die intellektuelle Leistung von Benjamin Graham wie folgt: „Um ein Leben lang erfolgreich zu investieren, bedarf es keines stratosphärischen IQ´s, ungewöhlicher Einsichten oder Insider-Informationen. Was benötigt wird, ist einerseits ein solider intellektueller Rahmen für die Investmententscheidungen und andererseits die Disziplin, die eigenen Emotionen daran zu hindern, diesen Rahmen auszuhebeln“.