Die große Anteilnahme, die das Ableben von Charlie Munger ausgelöst hat, zeigt, dass der 99-jährige Investor viel mehr war als die rechte Hand von Berkshire-Hathaway-Chef Warren Buffett. Der Abschied von einem zum Zynismus neigenden Finanz-Orakel und intellektuellen Titan der Finanzbranche.
Dass ein kranker 99-jähriger Mann stirbt, kommt eigentlich nicht überraschend. Die Nachricht vom Tod Charlie Mungers hat dennoch eine große Welle an Sympathie und Trauer ausgelöst. Die Tagespresse weltweit hat darüber berichtet. Das zeigt, dass dem stellvertretenden Verwaltungsratschef von Berkshire Hathaway und langjährigen Weggefährten Warren Buffetts eine weitaus größere Rolle zukam, als das viele Anleger wahrgenommen haben mögen. Auf den Spuren des Orakels von Los Angeles, der sechs Wochen vor seinem 100. Geburtstag in seiner Wahlheimatstadt verschied. (Munger wurde zwar in Omaha geboren, lebte aber den längsten Teil seines Lebens in Kalifornien.)
Die Lebensgeschichte von Charlie Munger ist bemerkenswert vielseitig und ist in den vergangenen Tagen oft nacherzählt worden (unter anderem von meinem Ex-Kollegen und Buffett-Fan Jocelyn Jovène von Morningstar). Die Highlights in Kürze. Er wurde am 24. Januar 1924 geboren, brach im Zweiten Weltkrieg sein Mathematik-Studium ab, um zur US-Army zu gehen, was ihn nach Kalifornien führte. Nach dem Krieg machte er seinen Jura-Abschluss in Harvard und gründete eine Rechtsanwaltskanzlei. Nach einem Treffen mit Warren Buffett 1959 wechselte er in die Investmentbranche und war Mitbegründer der Firma Wheeler, Munger & Co.
Der Wechsel zu Berkshire Hathaway kam erst 1978, wobei die symbiotische Beziehung zwischen Munger und Buffett schon längst etabliert war: Buffett und er trafen sich zunächst immer wieder auf der Spur der identischen Firmen – zunächst zufällig, später tauschten sie sich gezielt als Sparring-Partner noch vor ihrer offiziellen Liaison über potenzielle Aktieninvestments aus.
Wie Munger Buffett zu einem besseren Investor machte
Einer breiteren Öffentlichkeit – auch hierzulande – war Charlie Munger für seine launigen Sprüche bekannt, die er in Interviews, vor allem aber auf der Bühne in Omaha, Nebraska, bei den Hauptversammlungen von Berkshire Hathaway zum Besten gab. Letztere Bühne war deshalb auch für Anleger ein Highlight, weil er sich mit Berkshire-Chef Warren Buffett ähnlich gekonnt-süffisant die Bälle zuspielte wie einst Waldorf und Statler in der Muppet Show. Die stundenlangen Auftritte der Cola-schlürfenden älteren Herren – Warren Buffett ist mit 93-Jahren auch kein Jungspund mehr – sind ein Fundus für die Sammler von Investment-Weisheiten (stundenlang auf Youtube zu verfolgen).
Interessant ist, dass Munger standardmäßig als rechte Hand von Buffett abgetan wurde, als sein Side-kick; vermutlich auch, weil er bewusst die Rolle der zweiten Geige einnahm, eine Rolle, die für ihn persönlich alles andere als natürlich kam. Zumal sie seinem Beitrag für den Erflog von Berkshire Hathaway nicht annähernd gerecht wurde.
Als sich Munger und Buffett in den 1960-er Jahren immer wieder über den Weg liefen, war Buffett auf der Suche nach einer neuen Inspiration, da sein Mentor Benjamin Graham, der als Vater des Value-Investmentstils gilt, aus dem Berufsleben ausgeschieden war.
Charlie Munger war bereits damals gedanklich viel weiter als Graham und seinem eher grobschlächtigen Deep-Value-Stil. Er war zwar insofern ein Value-Investor, als er nicht bereit war, zu viel für eine Firma zu bezahlen. Allerdings war er kein Schnäppchenjäger, sondern rückte die Qualität der Unternehmens in den Mittelpunkt seiner Analyse, die ungleich komplexer war als der Stil von Graham-Schüler Buffett. Munger entwickelte sich zu einer prägenden Figur für diesen, was Buffet selbst immer wieder zum Besten gab:
„Charlie shoved me in the direction of not just buying bargains as Ben Graham had taught me. This was the real impact he had on me. It took a powerful force to move me on from Graham’s limiting view. It was the power of Charlie`s mind. He expanded my horizons”.
Dabei gab Buffett unumwunden zu, dass er sich nur zögernd von seinem Lehrer Graham lösen konnte:
„I evolved. I didn’t go from ape to human or human to ape in a nice, even manner. Boy, if I had listened only to Ben, would I ever be a lot poorer.”*
Diese Zitate zeigen die Evolution Buffets vom Deep-Value- zum GARP-Anleger, also vom Investor, der auch in Pleitekandidaten investiert, nur weil deren Buchwert höher ist als ihr Börsenwert, hin zu einem Anleger, der in wachsende Qualitätsunternehmen zu einem angemessenen Preis investiert (GARP ist das Akronym von Growth at a Reasonable Price). Nur vor diesem Hintergrund ist erklärlich, dass Apple inzwischen knapp die Hälfte von Berkshire Hathaways Aktienportfolio ausmacht. Ein Graham-Jünger reinsten Wassers hätte Apple angesichts der Bewertung nicht mit der Kneifzange angefasst. Munger, wenig bescheiden, hat sich mitunter recht abschätzig zu Graham geäußert; dieser sei vom großen Crash 1929 so traumatisiert gewesen, dass seine ganze Investment-Strategie darauf ausgerichtet sei, sich nicht noch einmal den Märkten schutzlos auszuliefern, wie das Wall Street Journal dokumentierte.
Dass Munger der intellektuelle Titan des Berkshire-Duos war, lässt sich auch am offenkundigen Respekt ablesen, den Buffett Munger stets bei den Bühnenauftritten in Omaha entgegenbrachte – auch wenn letzterer häufig mit einem scheinbar demütigen „I have nothing to add here“ auf Buffetts Ausführungen reagierte. Er backte in der Öffentlichkeit kleine Brötchen, und doch war seine Rolle für aufmerksame Beobachter offensichtlich – was nicht zuletzt aus der intellektuellen Schärfe seiner Kommentare bei gleichzeitig feinsinnigem Humor hervorging.
Charlie Munger - ein Philosoph des Lebens
Natürlich speiste sich die Prominenz Mungers auch aus der phantastischen Performance der Berkshire Hathaway-Aktie. Ein Investment von 10.000 Dollar Mitte März 1980 in die Aktie wäre heute 18,76 Millionen Dollar wert. Ein hypothetisches Investment derselben Summe in den S&P 500 hätte dagegen nur 1,23 Millionen Dollar gebracht. Auch wenn in diesem Jahrtausend der Abstand zwischen Aktie und Index geringer geworden ist und in den vergangenen zehn Jahren Aktie und Index in etwa gleichauf liegen, gilt Berkshire Hathaway als Kronzeuge für den Wert von aktivem Management.
Performance in Dollar und per 29.11.2023, Quelle: Morningstar
Doch Mungers Beliebtheit ging nicht nur auf seine Anlegertalente zurück. Neben seiner für die damalige Zeit innovative Herangehensweise an die Aktienanalyse – wer will, kann Munger als Erfinder des Quality-Growth-Investing bezeichnen – war Munger ein Philosoph des Lebens, dessen Weisheit sich aus seinem Erfahrungsschatz, seinem Bildungshunger und seiner Offenheit gegenüber neuen Ideen speist. Legendär ist auch seine schonungslos-analytische Kritik an den Exzessen der Finanzwelt, die der Zyniker der Märkte freilich gewinnbringend auszunutzen weiß („You know Warren, we would never be so rich if others wouldn`t be so stupid“).
Die ganze Tiefe seines Intellekts kommt in einem Vortag an der Harvard-Uni aus dem Jahr 1995 zu den Ursachen menschlicher Fehleinschätzungen zutage (schriftlich ausgearbeitet im Jahr 2004). Die in einfachen Worten vorgetragene Analyse besticht durch unprätentiösen, intellektuellen Scharfsinn und ist nicht zuletzt so bemerkenswert, weil Munger damit vorweg nahm, was in der Disziplin der Behavioural-Finance-Forschung erst gut ein Jahrzehnt später systematisch erarbeitet werden würde – alles erzählt aus der Perspektive des Praktikers, der sein persönliches Umfeld genau beobachtete und beschrieb.
Wer Mungers Thesen zu den menschlichen Affekten, die uns zu typischen schlechten Investmententscheidungen treiben, liest, wird seine unterhaltsamen Rants auf der Bühne in Omaha nicht mehr als Zufallstreffer eines notorischen Grantlers missverstehen. Seine beißende Kritik der Finanzbranche ist legendär – sie traf vorzugsweise Investmentbanker, Magier der kreativen Bilanzführung und die Spezialisten für kurspflegende Aktienrückkaufprogramme, die oftmals mit den Bonuszielen mancher CEOs synchronisiert scheinen. Es war die Kritik des Moralisten, der nach 60 Jahren Erfahrung mitunter am Rande des Zynismus balancierte, sich aber immer eine bemerkenswerte analytische Schärfe bewahrte, die sich wohltuend von der konziliant-jovialen Art von Berkshire-Chefs Buffett abhob.
Anleger in der Berkshire Hathaway-Aktie sollten übrigens durch den Tod Mungers nicht allzu besorgt über ihr Investment sein. Greggory Warren, Morningstar-Aktienanalyst und langjähriger Kenner von Berkshire Hathaway, hob nach dem Tod Mungers sachlich-nüchtern hervor, dass Mungers Tod keinen allzu großen (lies: keinen) Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit (Wide Moat) von Berkshire Hathaway haben werde. Die Nachfolgeregelung für Munger und Buffett sei bereits seit Anfang des Jahrtausends vorbereitet worden. Der Tod Mungers sei für Berkshire mithin ein „spiritueller Verlust“. Diese brutal formulierte Wahrheit schmerzt, da sie wie kaum eine andere Schlagzeile verdeutlicht, wie sehr wir diesen intellektuellen Titan der Märkte vermissen werden.