Anleger brauchen Investment-Szenarien statt Ideologie

Wer langfristig investiert, braucht einen Plan. Den zu entwerfen, ist mühsam. Noch mühsamer ist allerdings der Realitäts-Check, denn Investieren erfolgt immer unter unsicheren Bedingungen. Daher müssen Anleger Maß und Mitte finden. Ein Plädoyer für Szenario-basierte Investments.

Am Anfang war das Investment-Szenario

Die meisten Anleger investieren nach Szenarien, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Jeder trifft bestimmte Grundannahmen, bevor er sich am Kapitalmarkt engagiert. Ein einfaches Beispiel: Die meisten Anleger wissen zumindest vom Hörensagen, dass Cash langfristig wenig abwirft und Aktien langfristig den besten Erwartungswert haben, kurzfristig aber hohe Verluste erleiden können. Wer nun – ausgestattet mit diesem Wissen – am Aktienmarkt investiert und eine hohe Rendite erzielt, wird künftig eher optimistische Aktienszenarien entwerfen als jemand, der hohe Verluste hinnehmen musste. Letzterer wird vermutlich in Zukunft eher sein Geld aufs Sparkonto legen.

Szenarien sind also das Ergebnis eines Zusammenspiels zwischen Wissen, Erwartungen, Erfahrungen, Ereignissen und deren Folgen. Und diese ganze Kausalkette ist mit vielen Rückkopplungseffekten ausgestattet. Investieren klingt also furchtbar kompliziert, ist es aber nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man die richtigen Konsequenzen daraus zieht.

Seitdem die Disziplin der Verhaltensforschung auch ihren Weg in die Finanzwissenschaft gefunden hat, wissen wir, dass die Persönlichkeit des Anlegers genauso ein Schlüssel zum Erfolg (oder Misserfolg) ist, wie die Renditeentwicklung der Märkte.

Anleger vs Markt: Die zwei großen Parameter

Diese Überlegung hat zwei Konsequenzen: Die eine betrifft den Zugang zu den Märkten. Hier steht die breite Streuung des investierten Geldes über verschiedene Anlageklassen im Vordergrund: Aktien, Anleihen, Cash, Rohstoffe, Gold, gegebenenfalls auch Kryptos. „Diversification is the only free lunch in finance”, sagte Nobelpreiträger Harry Markowitz. Er meinte damit, dass man in der Welt der Kapitalanlagen ohne Risiko keine Rendite zu erzielen ist. Außer bei der Diversifikation. Hier kann durch die Streuung des Kapitals das Risiko reduziert werden, ohne dabei die Renditeaussichten zu schmälern.

Darüber hinaus müssen sich Anleger zu guten Investoren erziehen. Es gilt, typische Anlegerfehler, die aus althergebrachten menschlichen Affekten speisen, zu vermeiden. Zu den typischen Fehlern zählen: Framing-Effekt, Confirmation Bias, Herdentrieb, Availability Bias, Anchoring und viele mehr. Die Liste der typischen Anlegerfehler ist lang. Wer sich mit diesen Fehlerquellen auseinandersetzt und sein Verhalten an der Börse kritisch reflektiert, kann zu einem besseren Anleger werden. Viele Bonmots von bekannten Investoren greifen diese Fehler auf. Es schadet nicht, sie zu kennen. Besonders eingängig sind die Weisheiten von Warren Buffett, der auf eine sehr erfolgreiche Investmentkarriere von über 60 Jahren zurückblickt.

1 und 1 ist beim investieren leider nicht = 2

Wer bis hierher folgen kann, bringt gute Voraussetzungen mit, um realistische Szenarien und damit robuste Investmentstrategien aufzusetzen. Das Verhalten der Märkte realistisch einschätzen und die eigenen „Animal Spirits“ disziplinieren – wer das schafft, hat einen guten Weg zurückgelegt. Aber leider ist 1+1 nicht immer 2. Auch wer 1929, 2008 oder im März 2020 ein hochdiversifiziertes Portfolio hatte, erlitt hohe Verluste. Diversifikation bekommt man dann nicht, wenn man sie am meisten braucht, lautet eine Börsenweisheit, die das kurzfristige Anlegerdilemma in der Baisse umschreibt.

Und auch wer bestens über Anlegerfehler Bescheid weiß, kann Gefahr laufen, grobe Fehler zu produzieren. So können die Eigenschaften Disziplin und Stiltreue, die als wichtige Voraussetzungen für den Erfolg an der Börse gelten, Anleger auf Abwege führen. Das hängt mit den eigenen Erfahrungen zusammen. Wer einmal investiert hat, bleibt in der Regel bei seiner Linie. Dabei kann die Grenze zwischen Stetigkeit und Sturheit mitunter verschwimmen – gerade in Krisenzeiten. Das liegt daran, dass viele das eigene Szenario nicht als falsifizierbare These, sondern als Glaubenssatz verstehen.

Als Warren Buffett aufs falsche Pferd setzte

Das Dumme dabei ist, dass sich viele auf tatsächliche oder vermeintliche Staranleger berufen. Stichwort Warren Buffett. Er gilt als geduldiger Value-Anleger, der an einer Aktie festhält, bis der Markt erkannt hat, dass eine Aktie fehlbewertet ist. Aber gerade Buffett ist ein flexibler Investor. Er räumt eine Bastion, wenn er erkannt hat, dass ihm ein Irrtum unterlaufen ist.

Ein gutes Beispiel war Buffetts gescheiterte IBM-Investition. 2011 kaufte er für knapp elf Milliarden Dollar IBM-Aktien. Dem Coke- und McDonald’s Fan war bis dahin die Digitalökonomie suspekt. Er wollte auf Nummer sicher gehen und investierte lieber in „Big Blue“ statt in die „jungen Wilden“ wie Apple oder Google. Nach einer lange Schwächephase von IBM folgte dann 2016 der Switch: Buffett warf IBM aus dem Portfolio und kaufte in großem Stil die Apple Aktie, die über die Jahre zur größten Position der Buffett-Holding Berkshire Hathaway wurde – 915 Millionen Apple-Aktien haben heute einen Wert von knapp 160 Milliarden Dollar. Apple machte Ende 2022 rund 45 Prozent des Berkshire-Portfolios aus.

Szenarien: Trichter statt Punktlandungen

Gute Investoren verwenden viel Mühe auf das Durchspielen von Investmentszenarien. Haben sie eine Strategie einmal aufgesetzt, bleiben sie in der Regel bei der Sache. Aber realistische Investmentszenarien sind keine Punktprognosen, sondern sollten flexibel genug sein, um starke Abweichungen auszuhalten. In der Betriebswirtschaft bzw. im Risikomanagement spricht man auch von der Szenariotechnik bzw. dem sogenannten Szenariotrichter. Weil die Investment-Bedingungen von Unsicherheit geprägt sind, unterscheidet man zwischen zeitstabilen Trendszenarien und Abweichungen, die positiv oder negativ ausfallen können.

Auch an den Märkten sind Abweichungen die Norm. Anleger sollten daher Szenarien nicht mit Glaubenssätzen verwechseln, sondern ihre Prämissen regelmäßig einem Realitäts-Check unterziehen. Warren Buffett ist sich dafür auch nicht zu schade.

Quelle: https://www.bwl-lexikon.de/wiki/szenarioanalyse/

Über den Autor

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Ali Masarwah

Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar.
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