Anleger sind typischerweise apolitische Menschen. Der Angriffskrieg Russlands hat das verändert. Aktien- und Energiepreise wurden 2022 durchgeschüttelt, von heute auf morgen hat ein recht großer BRIC-Markt Anlegern einen Totalverlust beschert. Unsere Checkliste zeigt, wie Anleger der Geopolitik eine größere Bedeutung beimessen können, ohne ihre Investmentstrategie über den Haufen zu werfen.
Russlands Invasion bringt die Kapitalmärkte in Bedrängnis
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, wie relevant die Geopolitik für Anleger werden kann. Unsicherheit und Angst haben Anleger und Märkte in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder erfasst. Der Schock war nach Beginn der Invasion am größten und die Aktien- und Energiemärkte kräftig durchgeschüttelt. Seitdem haben sich Anleger beruhigt, aber russische Aktien und Anleihen haben Anlegern einen Totalverlust beschert. Auch Aktien und Anleihen aus der Ukraine und Weißrussland sind nicht mehr handelbar. Der Handel mit Russland- und Osteuropafonds ist zum erliegen gekommen.
Die Maxime, wonach politische Börsen kurze Beine haben, mag für Ereignisse wie Bundestagswahlen gelten. Aber im Jahr 2022 sind existentielle sicherheitspolitische Bedrohungen zurückgekehrt, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts Ende der 1980-er Jahre überwunden schienen. Die NATO hat Russland als größte sicherheitspolitische Bedrohung definiert, und auch die Herausforderung durch China wird heute ernst genommen. Anleger stehen vor dem Scherbenhaufen der alten Entspannungspolitik. Und können es sich mehr nicht leisten, Sicherheitspolitik als Hintergrundrauschen in den Nachrichten zu ignorieren.
Welche Konsequenzen sollten Anleger aus dem beunruhigenden “New Normal” der internationalen Politik ziehen? Geopolitische Fragen in seine Investmententscheidungen einzubeziehen, bedeutet nicht, alles über Bord zu werfen, was bisher funktioniert hat. Egal, ob man in Wertpapiere (oder Fonds/ETFs) nach fundamentalen oder nach technischen Kriterien investiert, es gilt, den Blick für geopolitische Faktoren zu schärfen. Dabei geht es um Nuancen. Keine gute Lösung erscheint mir dagegen, sich auf den Standpunkt zu stellen, man sei ein unpolitischer “Bottom-up Stockpicker” und damit ausschließlich auf die Unternehmensebene konzentriert. Auch wer unpolitisch ist, wird damit hadern, dass seine russischen Aktien heute nichts mehr wert sind.
Demokratie gegen Diktatur: Neue Trennlinien im Portfolio
Die Prämissen hinter unseren Empfehlungen: Wir unterstellen, dass liberale westliche Demokratien mit ihrem System der freien Marktwirtschaft die beste (nicht die perfekte) Staatsform darstellen. Wir setzen voraus, dass die internationale Politik in der nächsten Dekade vom Konflikt zwischen demokratischen und autoritären Systemen geprägt sein wird. Dieser Konflikt wird mit einer Lagerbildung einhergehen. Dabei liegt es nahe, dass diese Lagerbildung trennschärfer verlaufen wird als im Kalten Krieg, als sich die blockfreien Staaten bewusst weder Moskau noch Washington anschlossen.
Wer diese Prämissen akzeptiert, kann mit vielen Variablen arbeiten und sie als “Filter” in seinen Investmentprozess integrieren. Dabei muss es sich nicht um Negativ-Screenings handeln, die rigoros die “Sünder” aus China oder anderen autoritären Staaten aussortieren. Im Gegenteil: Vielleicht kommen wir anhand unseres Researchs zum Schluss, dass ein Investment in China oder Kasachstan rentierlich sein könnte. Ein “Demokratiefilter” könnte dann genutzt werden, um eine zusätzliche Risikoprämie zu taxieren bzw. einen höheren Abschlag auf den Fair Value einer Aktie vorzunehmen. Umgekehrt könnten Anleger bei einer Verschärfung globaler Konflikte bereit sein, in einem Quality-Ansatz eine Prämie für Unternehmen / Bonds aus Demokratien zu bezahlen bzw. einen Aufschlag auf den Fair Value zu akzeptieren.
Fünf Datenbanken für den geopolitischen Durchblick
1.Der Democracy Index: Er wird vom Economist Intelligence Unit berechnet. Er aggregiert Faktoren wie Pluralismus/Wahlen, politische Partizipation, politische Kultur und zivile Freiheiten. Die Top Demokratien sind: Norwegen, Neuseeland, Finnland, Schweden, Island, Dänemark, Irland, Taiwan, Australien und die Schweiz. Die schlimmsten Diktaturen sind erwartungsgemäß Afghanistan, Myanmar und Nordkorea. Dort investiert keiner. Aber u.a. sind auch China, Saudi Arabien, Ägypten, Kasachstan, Russland und Jordanien auf der Liste der Autokratien vertreten. Und in dem einen oder anderen Land haben die meisten von uns bereits investiert. Wenn nicht direkt, dann doch über Fonds oder ETFs.
2. Die Weltbank hält eine beeindruckende Fülle von Indizes vor, die den Stand von Freiheit, Stabilität, Korruption, Wettbewerbsfreundlichkeit, Cost of starting Businesses und viele mehr abbilden. Im Index für Voice und Accountability finden sich beispielsweise Norwegen, Finnland, Neuseeland, die Schweiz, die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Schweden, Kanada und Österreich ganz oben. Die Flops sind Nordkorea, Eritrea und Turkmenistan, aber auch China, Saudi Arabien, Ägypten, Vietnam, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate haben in Sachen politischer Governance eine miese Bilanz.
3. Die NGO Freedom House berechnet jedes Jahr für alle Staaten Global Freedom Scores, die in ihrem Jahresbericht präsentiert werden. Auch hier schneiden Länder wie Norwegen, Finnland, Schweden, Neuseeland, Kanada, Dänemark, die Niederlande, aber auch Länder wie Uruguay, Taiwan, Chile und Zypern gut ab. Unfrei sind u.a. Saudi Arabien, China, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Vietnam.
4.Einen Schwerpunkt auf wirtschaftliche Liberalisierung setzt der jährlich berechnete Index of Economic Freedom der konservativen Heritage Foundation. Hier finden sich Singapur, die Schweiz, Irland, und Neuseeland an der Spitze der freiheitlichen Länder. “Unterdrückt” sind dagegen Länder wie Nordkorea, China, Ägypten, “überwiegend unfrei” sind u.a. Russland, Saudi Arabien, aber auch Südafrika, Brasilien und Argentinien.
5. Eher auf individuelle Freiheiten zielt wiederum der Human Freedom Index des liberalen Cato Institute ab, der sehr breit gefächert ist und praktischerweise seine Datensätze zum freien Download anbietet. Zuletzt (2019) führte die Schweiz den Index an, gefolgt von Neuseeland, Dänemark, Estland, Irland, Kanada, Finnland und Australien. Wenig überraschend finden sich Syrien, Venezuela, Ägypten, Saudi Arabien, China, die Türkei und Vietnam weit unten im Freedom-Ranking.