Sparkassen bringen gerade in großem Stil Zertifikate unter das Anlegervolk. Wir sind Zeuge eines haarsträubenden Falls geworden. Wie die Zinssuche einer 80-jährigen Sparkassenkundin in einer Havarie mit Expresszertifikaten endete.
Immer wieder bekommen wir Portfolios von Bankkunden vorgelegt, bei denen uns Hören und Sehen vergeht. Das aktuelle Beispiel: Expresszertifikate der Risikoklasse 5 im Depot einer 80-jährigen Sparkassenkundin. Das erlitt im Stahlgewitter der russischen Invasion der Ukraine Schiffbruch. Wie konnte das passieren?
Franziska T. (Name geändert) hatte einen Verdacht, dass bei den Empfehlungen ihres beflissenen Sparkassenberaters aus Südhessen etwas nicht stimmen konnte. Der Wert des Depots der Unternehmerin sank seit dem Start deutlich. Und das, obwohl der freundliche Wertpapierexperte der Sparkasse in einer südhessischen Kleinstadt attraktive Zinsen in Aussicht gestellt hatte. Das erschien Anfang 2022, in zinsarmen Zeiten, ziemlich verlockend.
Heute bietet das Sparkassendepot von Franziska T., die über Umwege mit ihren Fragen zu envestor kam, ein gruseliges Bild. Neben einem wirklich ordentlichen Mischfonds (nicht aus dem Hause der Sparkassen bzw. der Deka) finden sich bei der betagten Sparkassenkundin nebst einem fünfstelligen Euro-Investment in die Aktie von Fresenius Medical Care acht Express-Zertifikate, von denen drei mittlere zweistellige Verluste von bis zu 35 Prozent aufweisen; vier liegen leicht im Minus, ein Zertifikat notiert bei plus 20 Prozent.
Zertifikate machen 80 Prozent des Depots aus
Bei den Zertifikaten, die unbesicherte Inhaberschuldverschreibungen sind, handelt es sich um Produkte der zweithöchsten Risikostufe. Sie sind beileibe keine Beimischung im Depot von Frau T., sondern machten zum Start über 80 Prozent des Portfolios aus; danach kam die Fresenius-Aktie hinzu. Diversifikation sieht anders aus.
Dieses Sparkassenportfolio ist nach unserer Meinung das haarsträubende Ergebnis einer eklatanten Falschberatung. Zertifikate der Risikostufe 5 und Aktien sollten sich allenfalls als Beimischung in den Depots von Kundinnen und Kunden finden – bei den betagten unter ihnen als homöopathische. In unserem Fall dominierten sie das Portfolio.
Der Gang der Dinge lässt sich gut rekonstruieren. Franziska T. hatte im Beratungsgespräch Anfang 2022 nach „Zinsen“ verlangt. Wer wollte das in dieser zinsarmen Zeit nicht? Das hätte Anlass für den Berater sein können, seine Kundin darüber aufzuklären, dass Zinserträge angesichts der Minuszinsen der EZB schlicht nicht zu haben sind.
Stattdessen zauberte der findige Sparkassenmitarbeiter Expresszertifikate aus dem Hut. Diese Produkte stellen Anlegern und Anlegerinnen fest definierte Erträge in Aussicht. Die werden fälschlicherweise in der Praxis offenbar als „Zinsen“ deklariert. Das sind sie nicht, denn sie sind nicht sicher, wie das bei Bundesanleihen der Fall ist, und statt der sicheren Rückzahlung des Nominalwerts erleiden Anleger im schlimmsten Fall mit Expresszertifikaten hohe Verluste.
Mit Expresszertifikaten zum Zinsglück?
Performance und Ausschüttungen hängen bei Expresszertifikaten an einem Basiswert – in der Regel eine Aktie oder ein Index. Die Eigenschaften unterscheiden sich von Produkt zu Produkt, aber Sie sind in der Regel mit festen Laufzeiten ausgestattet. Es gibt während dessen verschiedene Beobachtungstage. Notiert der Basiswert an einem dieser Tage auf oder über dem Kurs des Basiswerts, werden der Nominalwert des Zertifikats (ohne Ausgabeaufschlag) plus einer definierten Zusatzzahlung zurückgezahlt.*
Sofern es während der Laufzeit zu keiner Rückzahlung kommen, hängt alles an einer vordefinierten Kursbarriere. Notiert das Zertifikat zum Ende der Laufzeit auf oder über der Barriere, werden der Nominalwert des Zertifikats (wiederum: ex Agio) zurückgezahlt und alle aufgeschobenen Zahlungen geleistet. Notiert es dagegen am Ende unter der Barriere, erleiden Anleger Verluste, im schlimmsten Fall droht ein Totalverlust. Angesichts der typischen Laufzeit von 3 bis 6 Jahren sind zweistellige Verluste bei Aktien und Aktienindizes innerhalb der Laufzeit nicht auszuschließen. Dass Barrieren gerissen werden, ist also keine Ausnahme.
Das verdeutlicht, wie stark solche Produkte von den Bedürfnissen von sicherheitsorientierten Anlegern abweichen. Expresszertifikate sind eine gezielte Wette auf ein ganz bestimmtes Szenario: auf Seitwärtsmärkte, in denen die Kurse nicht steigen und nicht zu stark fallen.
Putin setzt sich gegen Sparkassenstrategen durch
Der Berater in unserem Fall konnte natürlich nicht wissen, dass wenige Wochen nach dem Termin mit Franziska T. russische Truppen in der Ukraine einfallen und die Aktienmärkte abschmieren würden. Aber der russische Präsident und Kriegsherr Putin wollte partout das Marktszenario der südhessischen Sparkasse durchkreuzen. Sein Krieg gegen die Ukraine hat die Zertifikate von Franziska T. massiv in Mitleidenschaft gezogen.
An den Märkten passieren immer wieder unvorhergesehene Dinge. Deshalb erinnern eng begrenzte Investmentszenarien mit kurzen Laufzeiten an Pferdewetten. Besagter Sparkassenberater hatte kein Problem damit, mit dem Geld seiner Kundin zu zocken.
Dass es sich nicht um den Ausreißer eines irrgeleiteten Beraters aus der südhessischen Provinz handelt, sondern Methode hat, zeigt die Konzernstrategie der Sparkassenorganisation, die seit Jahren auf das Zertifikategeschäft setzt. Die DekaBank bezeichnet sich gerne als „Marktführerin bei Zertifikaten“. Sie hat laut Medienberichten Zertifikate im Gegenwert von rund 26 Milliarden Euro an den Markt gebracht.
Besonders erfolgreich war die Deka 2022, als der Zertifikateabsatz bei 12,6 Milliarden Euro lag nach immerhin 7,1 Milliarden Euro 2021. Aber das gibt nicht das ganze Bild wieder: Die Sparkassen verkaufen auch Zertifikate von Banken wie BNP Paribas, Goldman Sachs, LBBW und Société Générale. Die Vertriebsbilanz der Sparkassen bei Zertifikaten liegt also deutlich über dem, was die Deka produziert.
Lehman, TMT Bubble und kein bisschen weise
Wir wissen nicht, was die Sparkassenkundin Franziska T. mit ihrem Depot machen wird. Vielleicht wird sie bei der Stange bleiben, vielleicht wird sie ihr Depot liquidieren, vielleicht lässt sie ihre Zertifikate auslaufen. Weil wir keine Zertifikate beraten können, haben wir ihr nur die Funktionsweise dieser Produkte erläutert; diese waren der Kundin allem Anschein nach nicht bekannt.
Uns hat das Gespräch mit Franziska T. ratlos zurückgelassen. Die Sparkassen haben offenbar wenig aus vergangenen Portfolio-Havarien ihrer Kunden gelernt. Zur Zeit der Finanzkrise machten die Sparkassen Schlagzeilen damit, dass sie auch betagten Kunden „sichere“ Lehman-Zertifikate vertickt hatten. Zur Zeit der Tech-Blase wurden Kunden in großem Stil riskante Technologiefonds verkauft. Ab 2016 feierten die Sparkassen und ihr Dienstleister Deka dann eine rauschende Vertriebsparty mit Express-Zertifikaten. Die Wette ging übrigens nicht nur bei Franziska T. im Jahr 2022 schief. Auch auf dem Höhepunkt der Coronakrise 2020 schmierten die Kurse der Expresszertifikate ab, was der Branchendienst fondsprofessionell.de als „Lehman 2.0“ bezeichnete.
Aber offenbar kümmern die Sparkassen die Wetten von gestern herzlich wenig. Jetzt, wo der Zins zurück ist, kommen im Sparkassenvertrieb verstärkt Garantiezertifikate zum Einsatz. Die Wette auf eine stagnierende Wirtschaft und fallende Aktienkurse kann aufgehen. Oder eben nicht. Franziska T. ist immer und überall.
*In der ersten Version des Artikels waren die Auszahlungsbedingungen falsch formuliert. Bei Expresszertifikaten kommen die Auszahlungen während der Laufzeit zustande, wenn ein vordefinierter Preis einer Aktie oder Index überschritten und nicht unterschritten wird.