Extrapolation Bias: Der teuerste Anlegerfehler aller Zeiten?

Einer der gravierendsten Anlegerfehler ist der sogenannte Extrapolation Bias. Er wirkt in mehrere Richtungen und wird zudem von anderen kognitiven Fehlern verstärkt. Wir erläutern den mutmaßlich teuersten Anlegerfehler aller Zeiten.

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Haben Sie Anfang 2023 in den Nasdaq 100 investiert, nachdem er ein Minus von knapp 33 Prozent im Jahr 2022 hingelegt hat? Nicht? Dann wird es Ihnen gegangen sein wie vielen anderen Anlegern. Spiegelbildlich haben viele Anleger im Jahr 2020 investiert, nachdem der US-Growth-Index 2019 um 38 Prozent zugelegt hatte. Als dann ab Oktober 2021 die Korrektur bei Growth Aktien losging, stiegen Anleger in großem Stil aus – die Mittelabflüsse aus Growth-Fonds dauern seitdem an. Viele Investoren verpassten damit das Rekord-Plus von über 45 Prozent in den ersten sieben Monaten dieses Jahres (siehe die Grafik weiter unten).

Wer sich fragt, warum Anleger verkaufen, wann sie verkaufen oder warum sie kaufen, wann sie kaufen, kommt oft zum sogenannten Extrapolation Bias. Es handelt sich um eine Form der selektiven Erinnerung. Wir messen kurzfristigen Kursentwicklungen an der Börse für unser Vorgehen in der Zukunft ein größeres Gewicht bei als längerfristigen. Man nennt diesen Fehler auch Recency oder Representativity Bias.

Der Bias äußert sich in prozyklischem Investment-Verhalten. Investoren kaufen, nachdem die Kurse „Rückenwind“ hatten und verkaufen, nachdem die Kurse gefallen sind – weil sie die nahe Vergangenheit extrapolieren. Wer heute an der Seitenlinie steht und sein „Pulver trocken hält“, tut dies, weil er die Fortsetzung der Verluste des Jahres 2022 erwartet. Irgendwann wird dieser Anleger einsteigen, weil die vorhergehenden Kursgewinne ihn zuversichtlich gestimmt haben, dass es so weitergeht wie bisher. Ob das so sein wird, steht aber in den Sternen. Hinter den nackten Performance-Zahlen verbergen sich Unternehmensgewinne, Bewertungen, Zinsen, der Zustand der Wirtschaft und viele Faktoren mehr, die sich stetig verändern. Wer nur auf die Vergangenheits-Performance schaut, ignoriert die wichtigsten Voraussetzungen für die Renditen der Zukunft.  

Extrapolation Bias US Growth Funds

Mittelflüsse pro Quartal in USA Growth Aktienfonds, Domizil Europa, in Mio. Euro, Stand: 30.6.2023, Quelle: Morningstar 

Extrapolations Bias wirkt in viele Richtungen

Doch es gibt auch andere Ausprägungen des Extrapolation Bias, die weniger aus den Ereignissen am Markt selbst resultieren, sondern das Ergebnis falscher Heuristiken sind. Das bekannte Münzwurf-Beispiel trifft es gut. Wenn bei fünf Münzwürfen hintereinander eine „Zahl“ herauskommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, beim sechsten Mal „Kopf“ zu werfen, nicht höher als zuvor. Die Wahrscheinlichkeit liegt – wie vorher auch – bei 50 Prozent. Würde diese Antwort auch bei einer Straßenumfrage herauskommen?    

Sie finden dieses Beispiel allzu banal? Ich kann mich daran erinnern, dass eine große deutsche Wirtschaftszeitung in ihrer Neujahrsausgabe 2002 voller Zuversicht ankündigte, dass 2002 ein gutes Börsenjahr werden würde, weil der DAX seit Bestehen nie drei Jahre in Folge Verluste verzeichnet hatte. Im Jahr 2000 hatte der deutsche Leitindex 7,5 Prozent verloren und 2001 um 19,8 Prozent nachgegeben. 2002 verlor er dann 44 Prozent. Autsch!

In diese Kategorie gehören auch diverse Aktien-Experimente mit Tiere, etwa das amüsante Experiment der WirtschaftsWoche mit dem Hund Freddy, oder das Beispiel des Affen, der mit Dartpfeilwürfen Aktien auswählt. Trifft der Affe eine Aktie, die sich als Tenbagger entpuppt, misst man dem Affen als Stockpicker eine andere Qualität zu, als wenn er einen Rohrkrepierer erwischt hätte. Und wenn der Affe gleich fünfmal hintereinander einen Outperformer identifiziert, dann überträgt man ihm vielleicht die Verantwortung für das Depot?

Diese Experimente zeigen, dass auch langjährige Performance-Reihen das Ergebnis von Glück sein können – es erfordert eine qualitative Analyse, um bei Fondsmanagern oder anderen Investoren bestimmen zu können, ob Glück oder Können im Spiel ist. Das Gleiche gilt für die vielen Investmentfaktoren, die hinter sogenannten Smart Beta ETFs stehen – etliche sind nicht hinreichend erprobt, sodass ein Investment dem sprichwörtlichen Münzwurf nahe kommen könnte.     

Der Extrapolation Bias ist also besonders tückisch, weil er uns in mehrfacher Hinsicht aufs Kreuz legen kann: spontan neigen wir dazu, Vergangenheitsereignisse in die Zukunft fortzuschreiben und unser Handeln danach auszurichten; falsche Heuristiken wiederum machen uns glauben, dass hinter bestimmten Mustern Regeln stehen,  die es in der Realität aber nicht gibt. Dazu zählt die sogenannte Mai-Regel genauso wie komplexere Phänomene, etwa das sogenannte Ziegenproblem. Sie fußen auf falscher Intuition fußt.

Fazit: Sich erkennen und aus Fehlern lernen

Der Extrapolation Bias ist deshalb ein besonders teurer Anlegerfehler, weil er uns gleich mehrfach in die Irre führt. Außerdem tritt er oft in Kombination mit anderen kognitiven Fehlschlüssen auf. Da Anleger zum Herdentrieb neigen und die meisten wenig mit Mathe und Wahrscheinlichkeitsrechnungen am Hut haben, werden sie die gleichgerichteten Fehler anderer als Bestätigung des eigenen Irrglaubens missverstehen.

Besonders gern gesellt sich zum Extrapolation Bias der Ankereffekt. Man stellt eine Verbindung zwischen zwei Datenpunkten her, die nichts miteinander zu tun haben. Antizyklische Anleger werden nach einem Rekordverlust einer Aktie möglicherweise zugreifen, weil das Unternehmen noch nie so „billig“ an der Börse zu haben war. Sie gehen oft von einem langfristigen Rückkehr des Aktienkurses zum Mittelwert aus (reversion to the mean) und ignorieren das Insolvenzrisiko, das auf Einzeltitelebene droht. Andere werden ihren kognitiven „Anker“ an ihrem persönlichen Einstiegskurs werfen, oder vielleicht an der Hausnummer ihrer Wohnung oder dem Geburtstag ihrer Kinder festmachen.

Es gibt viele Möglichkeiten, falsche Anlageentscheidungen aufgrund klassischer Anlegerfehler zu begehen. Perfekt wäre es, diese Fehler, die durch Vorurteile, falsche Heuristiken, Gier und andere Affekte entstehen, gar nicht erst zu begehen. Weil das aber unrealistisch ist, sollten Anleger sich vornehmen, aus den unvermeidlichen Fehlern zu lernen und nicht die Flinte ins Korn zu werfen. Eigene Annahmen regelmäßig zu hinterfragen, die Ergebnisse seiner Investments zu analysieren und um die typischen Anlegerfehler zu wissen, sind gute Voraussetzungen für den langfristigen Anlageerfolg.

Über den Autor

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Ali Masarwah

Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar.
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