Zu Beginn dieses Jahres hatten wir in einer Reihe von Artikeln (Teil 1 – Teil 2 – Teil 3) einen Ausblick auf die Situation an den Kapitalmärkten gewagt. Nach einem nervenaufreibenden ersten Halbjahr wollen wir heute die Chance nutzen, unsere Thesen im Licht der jüngsten Entwicklungen zu überprüfen.
Vor sechs Monaten hatten wir die These aufgestellt, das Jahr 2020 habe auch abseits reiner Zahlenmagie das Potenzial, Anlegern als markanter Wendepunkt in Erinnerung zu bleiben. In diesem Punkt hat das Jahr bislang nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil: Viele der durch die Corona-Krise angestoßenen oder beschleunigten Entwicklungen und Veränderungen sind tatsächlich zu massiv, als dass das Jahr 2020 schnell in Vergessenheit geraten könnte.
Am Ende der Fahnenstange: Anleihen und Inflation
In unserem ersten Artikel hatten wir argumentiert, die seit Jahrzehnten anhaltende Abwärtsentwicklung bei Inflation und Zinsen werde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest nicht weiter fortsetzen lassen. Die Corona-Krise setzte diese Prognose zwar kurzfristig unter Druck, längerfristig aber hat sie weiter sinkende Zinsen und weiter fallende Inflationsraten tatsächlich noch unwahrscheinlicher werden lassen. Die Gründe hierfür liegen in der massiv ausufernden globalen Staatsverschuldung einerseits und der sich immer weiter auflösenden globalen Arbeitsteilung andererseits.
Weltweite Staatsverschuldung läuft weiter aus dem Ruder
Schon vor der Corona-Krise verfolgten nur wenige Staaten eine wirklich solide oder zumindest auf Konsolidierung ausgerichtete Haushaltspolitik. Niedrig- oder Negativzinsen boten einen zu verlockenden Anreiz, die fiskalische Disziplin schleifen zu lassen. In Japan versuchte man bereits seit Jahren, der Wirtschaft mit einer geradezu zügellosen Ausgabenpolitik auf die Sprünge zu helfen. Mit dem Corona-Ausbruch brachen dann alle Dämme und weltweit begannen sich die Regierungen mit immer gewaltigeren Konjunkturprogrammen zu überbieten. Fast könnte man meinen, das Geld für diese Programme komme einfach aus der umgangssprachlich vielbeschworenen Steckdose.
Geldpolitik wird immer aggressiver
Auch wer vor der Corona-Krise bereits glaubte, die Geldpolitik führender Notenbanken sei an Aggressivität nicht mehr zu überbieten, der kann sich heute nur noch die Augen reiben. Insbesondere die amerikanische Notenbank begeht einen Tabubruch nach dem anderen: Bis zu 500 Milliarden US-Dollar – so der Plan – kann die Notenbank in Unternehmensanleihen anlegen. Dabei schließen die Käufe heute nicht einmal mehr Ramschanleihen aus. Eine überaus bedrohliche Situation, denn die Fed droht so indirekt zum Finanzier für Pleitefirmen oder zum Beschützer von Zombie-Unternehmen zu werden: Im einen Fall drohen ihr Verluste, im anderen eine massive, ungesunde Verzerrung der wirtschaftlichen Realität.
Verrückte Normalität und zunehmende Ausweglosigkeit
Aus Sicht geldpoliitischer Traditionalisten entwickelt sich zunehmend eine haarsträubende und bis vor kurzem undenkbare Situation: Zentralbanken kaufen Anleihen, verzerren damit Risikoprämien, Zinsen und letztlich Erwartungen und geraten so in eine ausweglose Situation: Da sie einen immer größeren Bestand an Staats- und Unternehmensanleihen halten, werden sie sich kaum wieder zurück ziehen können, ohne ein Blutbad anzurichten. Wir bleiben daher bei unserer im Januar aufgestellten Behauptung: Angesichts aktuell mickriger Risikoprämien und negativer Zinsen sind Privatanleger wahrscheinlich gut beraten, bereits heute das Weite zu suchen. Staats- und Unternehmensanleihen aus den USA, Europa oder Japan sind und bleiben unattraktiv
Inflationsrisiken nehmen eher zu als ab
Dies gilt umso mehr, da die langfristigen Inflationsrisiken trotz oder gerade wegen der Auswirkungen des Corona-Virus eher weiter zunehmen. Der Ausbruch des Virus wirkt zwar kurzfristig deflationär, in der längeren Sicht aber verstärkt er eher den Trend zur Rückabwicklung der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden globalen Arbeitsteilung. Gerade die zunehmende Arbeitsteilung war aber der entscheidende Treiber des inflationslosen Wachstums der vergangenen Jahrzehnte. Folglich bleiben wir auch hier bei unserer Einschätzung: Eine Rückkehr von Inflation ist leider alles andere als unwahrscheinlich.
Gold weiterhin attraktiv
Die Kombination von Null- bzw. Negativzinsen und langfristig zunehmenden Inflationsrisiken lässt Gold auch weiterhin als attraktiv erscheinen. Aus unserer Sicht hat die Attraktivität des Edelmetalls trotz der guten Performance sogar weiter zugenommen. Denn sollte der Goldpreis ein neues Allzeithoch erklimmen, dürfte sich das Anlegerinteresse eher weiter erhöhen. Mittelfristig hat Gold angesichts der Rahmenbedingungen sogar das Potenzial, eine Spekulationsblase hervorzubringen und bleibt dabei als kleine Beimischung hochinteressant.
Aktien sind wieder mit Vorsicht zu genießen
Technologiewerte haben nach dem zwischenzeitlichen Einbruch längst wieder eine solche Blase herausgebildet: Netflix handelt beim fast 100-fachen Jahresgewinn und Amazon sogar weit darüber. Wie fragil diese Bewertungen sind zeigt das Beispiel Facebook: Aufgrund des um sich greifenden Boykotts verlor der Kurs an nur einem Tag fast 10 Prozent. Angesichts des hohen Gewichts von Technologiewerten in vielen Indizes, ETFs und Fonds sollten Anleger ganz genau hinschauen. Und während Aktien aus unserer Sicht auf dem Höhepunkt der Corona-Panik wieder als attraktiv erschienen, würden wir heute eher wieder dazu raten, Gewinne mitzunehmen. Einzig Aktien aus Schwellenländern erscheinen noch als wirklich preiswert.